Immer wieder schön und interessant, von dir zu lesen.
Bleibst du über die Feiertage drüben?
Ja, noch bis 1. Januar, dann geht mein Rückflug mit LX nach ZRH.
Es stehen momentan die üblichen Weihnachtsvorbereitungen und -parties an. Heute Vormittag wurde ich im Toys R Us in Torrance nochmals fündig und hab mich mit löwigen Sachen eingedeckt. Der Store ist mit Abstand der grösste TRU, den ich in den USA bislang gesehen habe. Will man alle Regale in normalem Tempo ablaufen, braucht man über eine Stunde.
Random-Erlebnis von gestern Vormittag: Kassierer bei Trader Joe's ist Fan der Los Angeles Rams - und kommentiert mein Seattle Seahawks-Jersey trotzdem mit "Awesome!" und nimmt die Niederlage seines Teams gegen die Hawks gelassen und verwickelt mich in netten Smalltalk. Obschon wir hier in einer der grössten Urbanregionen der Welt sind, kennt man sich in den Stores und tauscht sich aus.
Wenn man das Glück hat, bei privat wohnen zu dürfen, sieht man Sachen, die man sonst nicht sehen würde - Gutes und Schlechtes.
Ganz spannend sind die Wahl- und Abstimmungsunterlagen, die meine Gastgeberin für mich aufbewahrt hat. Nichts ist besser, wenn man sich selber mal ein Bild machen kann von einem Land, was ich sehr liebe, aber halt manchmal doch Fragen aufwirft.
Für Schweizer Mitleser: Das hier würde ziemlich genau unserem roten Abstimmungsbüchlein entsprechen.
Das folgende ist ein Muster-Stimmzettel für die Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten. Damit kann man im Wahllokal die Bedienung der Wahlmaschine (scheint eine Art tintenbasiertes Lochkartensystem zu sein) üben. Ja, hier im Hause wurde natürlich die grösste Niete gewählt... Hauptsache, man bleibt auf Parteilinie, auch wenn der Kandidat noch so unfähig und grobmotorisch ist.
Ich hab ja mal gesagt, dass man an jeder Schweizer Gemeinderatswahl mehr Auswahl hat, als bei der Wahl wer das mächtigste Land der Welt führen soll. Nun, das stimmt so doch nicht ganz, denn was fällt auf? Da hat's Kandidaten drauf, von denen weder US- und schon gar nicht Schweizer Medien etwas berichten. Gut, den Johnson kann man als Konsument anspruchsvollerer Medien noch kennen, aber den Rest? Was sind ihre Ideen, ihr Programm? Das Büchlein gibt darüber keine Antwort.
Umso vorbildlicher dafür die Seiten mit den Abstimmungsvorlagen für den Bundesstaat Kalifornien. Pro und Contra-Argumente kommen gleichermassen zu Wort (weiter hinten sogar noch vertiefter). Da kommt selbst Schweizer Stimmmaterial nicht daran heran, bei uns wird dem Gegenkomittee in der Regel nur eine Seite zugesprochen, 4-5 Seiten pro Vorlage widerspiegeln die Meinung von Bundesrat und Parlament.
Genau wie in der Schweiz auch gibt es auch hier Vorlagen vom Typ "Ist ja schön, wenn man keine grösseren Probleme hat"
Während in der Schweiz der Anteil der Briefwähler schon weit über 90% beträgt und viele Urnenbüros nur noch am Abstimmungstag kurz geöffnet haben, herrscht hier noch die Stimmabgabe im Wahllokal vor, hier für dieses Quartier war das in der benachbarten Elementary School. Die Möglichkeit, brieflich abzustimmen besteht, geniesst aber nicht so viel Vertrauen.
Auch anders verglichen mit der Schweiz ist, dass man sich zuerst registrieren muss, um wählen zu können - jedes Mal. In der Schweiz bekommt man die Sachen ab dem 18. Altersjahr automatisch zugeschickt. Wird ein Amerikaner mit Gefängnis bestraft, verliert er übrigens das Stimm- und Wahlrecht, in der Schweiz behält man es. Und damit die ganze Prozedur auch mit etwas Fun verbunden ist, gibt's im Wahllokal für jeden, der abgestimmt hat, einen "I Voted!" Sticker. Die Anzahl der Vorlagen ist beträchtlich, was aber wohl auch damit zusammenhängen könnte, dass man hier nicht wie in der Schweiz üblich 4-5x pro Jahr über Sachvorlagen befinden kann.
Spannend, so lernt man doch einiges, was man aus den Medien nie erfahren würde. Gutes, Schlechtes, aber vor allem auch das ganz normale, unspektakuläre.
Amerika präsentiert sich mir auch dieses Mal wieder als Land der krassen Kontraste. Angefangen bei meinem Kollegen Tim in Seattle, der über keinerlei Arbeitnehmerrechte verfügt und jede Nacht ohne bezahlte Ferien als Casino-Croupier sich für einen Minimallohn abrackern muss und dessen Haus in einem desolaten Zustand ist - was ihn aber trotzdem nicht davon abhält, den Optimismus zu verlieren und selber Gutes zu tun mit seiner Mascotting Charity. Denn Amerika ist kein Sozialstaat, tut nichts für die Armen und wenn ich von Schweizer Errungenschaften wie der Invalidenversicherung, das Gesundheitssystem, die sozialen Sicherungssysteme erzähle, löst das zwar riesige Bewunderung aus, aber selber will der Ami dann doch keinen Welfare State haben. Jeder glaubt, dass er es schaffen kann, aus dem Dreck zu kommen und staatliche Unterstützung ist etwas, was in weiten Kreisen unerwünscht ist.
Im Fanshop der Seattle Seahawks (Eintriitspreise pro Spiel und Person nicht unter $200) wird man an der Kasse gefragt, ob man was für eine Homeless Charity spenden will, bei Toys R Us habe ich heute Morgen die Frage am Kreditkartenterminal beantwortet, ob ich was und wie viel an Toys for Tots spenden will (hab $5 gedrückt). Nur um dann vor der Tür desselben Ladens, vollbepackt mit Einkaufstüten von einer durchaus netten Afro-Amerikanerin angesprochen zu werden, die für Obdachlose sammelt, während 20 Meter daneben für Kriegsveteranen gesammelt wurde, bevor wir die Heimfahrt mit unserem Hybridauto antreten konnten.
Man sieht auf der einen Strassenseite Stromleitungen an vermoderten, schiefen Holzmasten und andererseits noble Häuser mit Backyard und Swimming Pool. In ein paar Minuten ist man vom reichen Manhattan Beach im verarmten Inglewood oder Compton. Die Nebenstrassen weisen brutale Schlaglöcher auf, während die grossen Boulevards anständig ausgebaut sind. Irgendwo hier in der Nachbarschaft bauen sie eine Metrorail Station, während der technische Stand von Linien- oder Schulbussen sich seit Jahrzehnten nicht mehr entwickelt hat. Im Gegensatz dazu riecht man weder auf Freeways noch in Parkhäusern das kleinste bisschen Abgas, die Emmission Standards von Kalifornien liegen gefühlt weit über Schweizer Standards, wo es sich zwar auch viel gebessert hat, stickige Tiefgaragen aber noch immer deutlich wahrnehmbar sind.
Während ich in Seattle in einer zugigen, kalten Bruchbude wohnen musste, hatte ich zwei Stunden nördlich den Luxus eines auf 21 Grad in allen Räumen vollklimatisierten Hauses, dem selbst -7 Grad Aussentemperatur nichts entgegensetzen konnte. Und die Furry Convention paar Tage zuvor verbrachten wir mit größter Selbstverständlichkeit in einem Hilton, während sich vor dem Disney Store in Downtown Chicago Obdachlose niedergelassen haben.
Aber genau das macht die Faszination USA aus. Reich und arm liegen sehr nahe beieinander, etwas dazwischen existiert allerdings kaum noch.
Da ich inzwischen das Glück habe, mehrmals im Jahr im Land zu sein, verzichten wir dieses Jahr auf Disneyland und sparen für wenn die Bauarbeiten am Star Wars Land beendet sind. Los Angeles Zoo werden wir sicher noch besuchen, dort werde ich hoffentlich von dem fast schon uralten Löwenpaar paar tolle Bilder hinbekommen. Zum Strand haben wir's nicht weit und ansonsten entscheiden wir spontan. Ich kann auch ganz gut einfach mal den amerikanischen Alltag geniessen. Aussser 700 DirecTV-Programmen muss nicht immer was laufen.